Diese Fallstudie zu Behavioral Design bei Netflix zeigt:

Warum Zeit der entscheidende Faktor für Entscheidungen bei Produkten ist

Welche Methoden Netflix einsetzt, um die Auswahl einfach und ohne Entscheidungsreue (decision regret genannt) zu gestalten 

Wie Netflix die Auswahl vereinfacht und die Nutzungsdauer erhöht

Behavioral Design für Kundenzufriedenheit bei Netflix

Fallstudie Netflix

Viele Optionen, aber schwierige Entscheidungen

Wenn die Auswahl zu groß ist, kann das lähmend wirken. Man weiß nicht, was man sich ansehen soll, und blättert endlos durch die Bibliothek, bis man sich über die Zeit, die man dabei verbringt, ärgert. Die Auswahl und Entscheidung werden so zu einem eigenen Prozess, anstatt nur ein kurzer Auftakt für die geplante Fernsehzeit zu sein. Mittlerweile ist der Auswahlprozess und dessen Dauer bereits ein häufig berichtetes Phänomen von Kundinnen und Kunden von Netflix geworden, die sich darüber beschweren, dass die Auswahl viel länger dauert, als sie für akzeptabel halten.

Netflix ist ein beliebtes Beispiel, da deren Produktwelt im
Lebensalltag verbreitet ist und die Erlebnisse von vielen Menschen aus dem eigenen Umfeld so geteilt werden. Die grundlegenden Probleme haben jedoch viele Unternehmen, wenn die Entscheidung für oder gegen einen Kauf eines Produkts zum großen Teil durch den Prozess während der Kaufentscheidung gesteuert wird und eventuell nur zu einem sehr kleinen Teil von der Produktqualität oder dem Preis.

Behavioral Design bedient sich dieser Methoden, um basierend auf existierender Forschung oder auf neu entwickelten Experimenten konkrete Antworten auf konkrete Problemstellungen zu geben. 

Auswahl mit Leichtigkeit bewältigen

Vielleicht ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Sie, wenn Sie sich nach langem Überlegen endlich für etwas entschieden haben, weniger zufrieden damit sind, als wenn Sie sich in einem Sekundenbruchteil für genau dasselbe Produkt entschieden hätten. Sie fragen sich immer noch, ob die anderen Optionen nicht besser gewesen wären. Das Gleiche passiert, wenn wir einkaufen. Das nennt man Kaufreue (buyer’s remorse genannt). 

Die Kaufreue ist ein Pendant zur Entscheidungsreue (decision regret genannt), bei der es darum geht, dass man im Nachhinein bestimmte Gefühle bezüglich der Entscheidung hat und man meist auch schon vor der Entscheidung weiß, wie man sich je nach Option danach fühlt. Dies beeinflusst unmittelbar auch den Entscheidungsprozess. Bei einem Beispiel wie der Auswahl einer Sendung auf Netflix ist es zum gewissen Teil die Vermeidung einer kognitiven Dissonanz. Wenn man die Freizeit mit einer schlechten Filmwahl verbringt, widerspricht das dem Wunsch nach einer schön verbrachten Zeit, sodass man unbedingt vermeiden möchte, eine schlechte Wahl zu treffen. Das führt dann schnell dazu, dass man sehr lange die verschiedenen Optionen an Filmen und Serien auf Netflix durchscrollt, um eine schlechte Wahl zu vermeiden. Ab einem bestimmten Punkt fühlt sich dann die Auswahl so umständlich an, dass man in eine Art Spirale der unangenehmen Gefühle landet. Man fühlt sich schlecht, wenn man eine „falsche“ Wahl trifft, und man fühlt sich schlecht, wenn man zu lange für die Wahl braucht.

Kognitive Dissonanz bezeichnet in der Sozialpsychologie einen als unangenehm empfundenen Gefühlszustand, der dadurch entsteht, dass ein Mensch unvereinbare Kognitionen hat. Kognitionen sind mentale Ereignisse, die mit einer Bewertung verbunden sind. Zwischen diesen Kognitionen können Konflikte entstehen. 

Am Ende zeigt es sich, dass je schwieriger die Entscheidung ist, als umso relevanter wird sie eingeschätzt. Wenn man sehr viel Zeit mit der Entscheidung verbringt und die unterschiedlichen Optionen in deren Qualitätseigenschaften prüft, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die endgültige Wahl für eine der Optionen im Nachhinein als nicht so gut gelungen eingestuft wird.

Es gibt für das Unternehmen Netflix daher verschiedene Möglichkeiten, diese Konflikte anzugehen. Zuerst einmal ist die Analyse der Ausgangsbasis wichtig, um zu verstehen, wie Kundinnen und Kunden den Umgang mit dem eigenen Produkt wahrnehmen.

In so einer Situation könnten folgende Entscheidungsszenarien entstehen:

  • Entscheidung für etwas Bekanntes – wir wissen, wie es ist und was wir bekommen.
  • Entscheidung für etwas Neues (eventuell nach langer Auswahldauer) – wir sind höchstwahrscheinlich weniger zufrieden mit der Auswahl (Entscheidungsreue)
  • Entscheidung für den Abbruch der Entscheidungssituation – wir entziehen uns der Entscheidung und damit auch der Nutzung des Produkts

Alle diese Entscheidungsszenarien stellen große Herausforderungen für Unternehmen dar, die Produkte anbieten möchten. Im Bereich Customer Insight wird versucht, die Hürden für eine Kaufentscheidung zu reduzieren. Es hat sich gezeigt, dass eine Entscheidung gegen einen Kauf eines interessanten Produktes meist nicht wegen des Preises, sondern wegen des gesamten Entscheidungsprozesses getroffen wird. Wie bereits oben beschrieben kann die Entscheidung für oder gegen den Kauf durch andere Faktoren bestimmt werden, die nichts mit der Produktqualität oder dem Preis zu tun haben. Das ist für viele Unternehmen ungünstig, die nicht in direktem Kontakt zu Kundinnen und Kunden stehen. Für Netflix ist dies eine gute Chance, durch Veränderungen dieses Entscheidungsprozesses das Erlebnis zu verändern.

Überangebot an Auswahlmöglichkeiten (choice overload genannt)

Das Überangebot bei der Auswahl ist das Ergebnis einer zu großen Anzahl an Wahlmöglichkeiten. Sie kann zu Entscheidungsmüdigkeit, zum Festhalten an der Standardoption (default option genannt) oder sogar zum Vermeiden einer Entscheidung führen.

Kategorisierung und verkaufsfördernde Beschreibungen

Netflix listet nicht alle Titel von A bis Z auf. Dies wäre eine naheliegende Idee, denn dadurch könnten sie aufzeigen, wie umfangreich ihr Produktangebot ist und wie viel man für den Abonnementpreis erhält. Auf diese Art der Überzeugung von der Produktqualität verzichtet das Unternehmen jedoch bewusst. Sie wissen, dass die Auswahl aus dem Komplettangebot zu kompliziert ist, aber die Auswahl aus einigen wenigen Optionen deutlich erfolgsversprechender ist, aus den oben beschriebenen Gründen rund um Entscheidungsreue und den Konsequenzen aus einer zu lange dauernden Entscheidungsphase. Wenn Netflix die Menge an Informationen, die wir verarbeiten müssen, reduziert, können wir schneller Entscheidungen treffen. Daher ist es eine gute Strategie, eine scheinbar unendliche Anzahl von Titeln in eine sinnvoll erscheinende, umfassende und geringe Anzahl an Kategorien zu unterteilen.

Die entscheidende Frage bei der Produktplatzierung ist daher: Welche Kategorisierung erleichtert die Entscheidungsfindung und wie heißen die Kategorien?

Sozialer Beweis (social proof genannt) und die Angst, etwas zu verpassen

Die Titel, die Netflix am liebsten zeigen würde, sind die selbstproduzierten Filme und Serien. Aber etwas Neues zu sehen, fühlt sich ungewiss an. Wenn Überangebot und Ungewissheit zusammentreffen, ist das eine große Herausforderung. Die übliche Reaktion auf so eine Entscheidungssituation ist der Vergleich mit anderen, die auch so eine Situation erlebt hatten. Das, was die anderen taten, scheint sich zu bewähren. Wichtig ist hierfür eine gewisse Glaubwürdigkeit des Verhaltens anderer Leute, denn allzu oft wirkt die Produktwerbung „am häufigsten gekauftes Produkt“ oder „beliebtestes Produkt bei unseren Kunden“ eher dem Unternehmensinteresse gewidmet als einer evidenzbasierten Angabe über das Kaufverhalten von anderen Menschen.

Für ein Produkt wie bei Netflix ist der soziale Beweis auch für eine andere Dimension des sozialen Miteinanders aus analytischer Sicht sehr interessant. Menschen sprechen untereinander über die Sendungen, die sie gerne ansehen. Wenn man selbst die Serie oder den Film nicht gesehen hat, kann man an diesen Gesprächen nicht so gut teilnehmen, daher entsteht ein gewisser Handlungsdrang, diese Sendung ebenfalls zu sehen. Implizit wird dies durch die am häufigsten gesehenen Serien und Filme im Ranking auf Netflix bereits vorgegeben, sodass diese Sendungen eine gewisse Beruhigung bieten. Aus emotionaler Sicht ist es sogar von Vorteil, sich auf das Urteil anderer zu verlassen, da die Entscheidungsreue (decision regret) somit auf andere geschoben werden kann, falls der Film doch eher langweilig war.

Der soziale Beweis ist unsere Tendenz, uns von dem, was andere tun, wie sie denken und sich verhalten, beeinflussen zu lassen. Vor allem, wenn wir uns nicht sicher sind, was wir tun sollen.

Personalisierung

Neben der Kategorisierung gilt die Personalisierung auf die eigenen Gewohnheiten als spannende Lösung. Hierfür wird anhand der bereits benutzten Produkte, bei Netflix die Serien und Filme, mittels Scoringalgorithmus (siehe auch Behavioral Data Science) ein Wert ausgewiesen, wie gut ein noch nicht gesehener Film zu den bisherigen Sehgewohnheiten passt. Aus Datenanalyseperspektive ist dies eine spannende Modellierung von Verhaltensdaten und aus Kundenperspektive ist dies eine dankbare Information, denn es erspart die Entscheidungsfindung, wenn man sich auf frühere Entscheidungen verlassen kann. Ein Film, der zu 98% den bisher geschauten Inhalten entspricht, kann nicht so verkehrt sein. Ebenso kann man sich leichter gegen etwas entscheiden, ohne lange darüber nachzudenken, wenn die Übereinstimmung auf unter 50% sinkt.

„Vorausgewählte“ Optionen

Für die Situationen, in denen Kunden trotz der vorher dargestellten Hilfestellungen nicht wählen können, kann es hilfreich sein, eine Formulierung zu verwenden, die andeutet, dass etwas eine Standardoption (default option genannt) ist.
Bei Netflix gibt es hier drei verschiedene Varianten für diese Standardoption – default option.

  • „Weiterschauen“ – eine bereits angefangene Sendung kann fortgesetzt werden
  • „Erneut ansehen“ – die gleiche Sendung kann noch einmal gesehen werden
  • „Was kommt als Nächstes?“ – nach dem Ende der vorherigen Sendung wird gleich die nächste Wahl serviert

Die wichtigsten Erkenntnisse zu Behavioral Design für die Kundenzufriedenheit

Kaufentscheidungen hängen mehr vom Entscheidungsprozess als von Preis, Produktqualität oder Werbung ab

Testen Sie mögliche Lösungsoptionen wie bei Netflix die Kategoriegruppierungen, sozialer Beweis oder Standardoptionen – der Methodenbaukasten von Verhaltenswissenschaften (Behavioral Science) ist groß und wirkungsmächtig

Es gibt keine Standardlösung für Ihr Produkt und Ihre Kundenzufriedenheit, aber es gibt für alle Kontexte eine optimierte Lösung

Dieser Text ist in freundlicher Zusammenarbeit mit InsideBE s.r.o. (www.insidebe.com) entstanden. Die Inhalte wurden zuerst unter „How Netflix makes us choose“ von Kristina Radova publiziert. Die dargestellten Inhalte wurden für die deutsche Fassung neu zusammengestellt und durch weitere Ergänzungen zur wissenschaftlichen Einordnung der verhaltenswissenschaftlichen Konstrukte verfeinert.