Ist-Zustand-Verzerrung (status quo bias)

Was ist eine Ist-Zustand-Verzerrung?

Ist-Zustand-Verzerrung (status quo bias) beschreibt ein Verhalten, wonach Menschen den aktuellen Zustand gegenüber einer Veränderung bevorzugen. Diese Ist-Zustand-Verzerrung kann entweder aus Untätigkeit bestehen, um keinerlei Veränderung anzustoßen, oder einer Festlegung auf früher getroffene Entscheidungen, die nicht mehr verändert werden. Diese Art der Verzerrung kommt im Alltag häufig vor.

Beispiele für die Ist-Zustand-Verzerrung

Ein Beispiel für die Ist-Zustand-Verzerrung lässt sich bei einer wenig erfolgreichen Geldanlage beobachten, beispielsweise bei einer Fondswahl für eine private Renten-/Lebensversicherung. Hierbei wird häufig an der früheren Entscheidung festgehalten, obwohl sie mittlerweile nicht mehr die beste Entscheidung ist und man sich dessen bewusst ist. Durch die Wahl einer anderen Geldanlage oder des Wechsels zu einem anderen Fonds könnte mit relativ wenig Aufwand mehr Ertrag erzielt werden.

Ähnliches lässt sich bei schlecht laufenden Unternehmen beobachten. Beispielsweise bei einem Unternehmensgründer, der bereits eine große Summe investierte, aber keinen Gewinn mit dem Unternehmen erzielt. Um das Unternehmen aufrechtzuerhalten, wird weiterhin Geld investiert, obwohl die Geschäftsaussichten bekannt sind und auch in Zukunft keinen Erfolg versprechen. Dieses Verhalten wird als Verlorene-Kosten-Fehlschluss (sunk cost fallacy) beschrieben. Der Fehler bei diesem Verhalten liegt darin, dass die vorherige Entscheidung nicht widerrufen wird und dadurch ein großer finanzieller Verlust entstehen kann. Der Treiber für den Verlorene-Kosten-Fehlschluss liegt in der Ist-Zustand-Verzerrung. 

Erklärung und Hintergründe der Ist-Zustand-Verzerrung

Einer der Faktoren für die Ist-Zustand-Verzerrung ist die Vermeidung des Bedauerns neuer Entscheidungen. Früher getroffene Entscheidungen sind zeitlich immer weiter entfernt und haben nicht den gleichen emotionalen Einfluss wie nicht ganz so alte Entscheidungen. Dadurch würde man es stärker bedauern, wenn man eine falsche neue Entscheidung getroffen hätte. Beispielsweise würde ein jahrelang regelmäßiger Lottospieler es sehr bedauern, wenn er vor zwei Wochen sein Abonnement gekündigt hätte und dann bei der aktuellen Ziehung ein großer Lottogewinn möglich gewesen wäre. Wenn die Entscheidung mit dem Lottospielen aufzuhören schon vor mehreren Jahren gewesen wäre, dann wäre das Bedauern geringer, weil die Entscheidung eine größere zeitliche Distanz aufweist. Inhaltlich ist beides identisch, nämlich die Entscheidung aufzuhören wurde getroffen. Die zeitliche Distanz jedoch entscheidet den emotionalen Zustand des Bedauerns. 

Ein weiterer entscheidender Einfluss auf die Ist-Zustand-Verzerrung ist die Wahlüberlastung. Bei diesem Konzept der Verhaltenswissenschaften geht es darum, dass eine große Auswahl auch sehr viel Denkaufwand bedeutet. Je schwieriger es ist, alle Alternativen zu überdenken, desto schwieriger ist es, eine Entscheidung zu treffen. Was läge hier näher, als gar keine Entscheidung zu treffen? Daher hat in dieser Situation die Ist-Zustand-Verzerrung einen entscheidenden Einfluss, denn sie entlastet die Menschen von dieser Wahlüberlastung. 

Wie überwinde ich eine Ist-Zustand-Verzerrung?

Nach bisherigem Kenntnisstand gibt es zwei erfolgsversprechende Lösungen für diese Ist-Zustand-Verzerrung (status quo bias).

Überdenken

Wenn Sie vor einer Entscheidung stehen und sich überlegen, was Sie tun sollten, dann bemerken Sie schnell, ob Sie eine Ist-Zustand-Verzerrung haben. Typische Anzeichen dafür sind Gedanken wie „Ich habe es früher schon einmal so entschieden“ oder „Das ist mir jetzt zu anstrengend, ich lasse jetzt erstmal alles so, wie es ist“. Solche Gedanken sind nachvollziehbar und per se auch gar nicht schlecht für Sie. Der wichtige Punkt an dieser Stelle ist für Sie, dass Sie bedenken, dass Sie einen Nachteil davon haben könnten, wenn Sie jetzt nichts entscheiden.

Ganz besonders ausschlaggebend ist, dass Sie daran denken, dass eine Ist-Zustand-Verzerrung nicht bedeutet, dass Sie diese Verzerrung umgehen, indem Sie eine andere Alternative wählen. Leider ist es nicht ganz so einfach. Am Ende Ihres Entscheidungsprozesses kann nämlich durchaus stehen, dass Ihre vorherige Entscheidung, die zum Ist-Zustand geführt hat, sogar für die Zukunft die beste ist.

Aktive Entscheidung

Manchmal gibt es keinen wirklich bewussten Ist-Zustand, da es sich um eine Entscheidung handelt, die von anderen vorgegeben wurde, ein sogenannter Default/Standard in der Entscheidungsarchitektur (choice architecture). Oder es handelt sich um eine Entscheidung, die so klein und unwichtig scheint, dass es zwar einen Ist-Zustand gibt, es aber keine große Relevanz für Sie hat.

In solchen Situationen können Sie die Verzerrung schnell überwinden, indem Sie ganz bewusst die Entscheidung treffen, etwas so zu lassen, wie es ist. Sobald Sie sich bewusst machen, dass Sie aktiv eine Entscheidung treffen, spüren Sie sofort, ob es etwas ist, das Sie genauer überlegen sollten oder ob es so unwichtig ist, dass Sie sich wichtigeren Dingen im Leben widmen können.